Heim, Danke

Ein ehemaliges Heimkind lässt Heimerzieher tief in seine Seele blicken

Eltern und Erzieher versuchen im besten Fall Kindern und Jugendlichen das mitzugeben, was sie für ihre Zukunft benötigen. Doch ist das, was man glaubt geben zu müssen, tatsächlich auch das, was Kinder und Jugendliche benötigen? Diese Frage stellten sich Erzieher und Pädagogen des Jugendhilfezentrums „Maria Schutz“ in Grafenrheinfeld bei Schweinfurt. Fachkundige Unterstützung erhielten sie dabei von Jean-Francois Drozak, der selbst einen Teil seiner Kindheit in einem Jugendheim verbracht hat.

Sonntagsblatt: Anja Legge
Heimleiter Andreas Waldenmeier (links) und Jean-Francois Drozak beim Erfahrungsaustausch.

Vier Jahre lang lebte Jean-Francois Drozak in einem Jugendheim unter kirchlicher Trägerschaft in München. Im Alter von 14 Jahren war der heute 38-Jährige mit seinen beiden Geschwistern dort angekommen. „Unsere Mutter war schwer psychisch krank“, berichtet Drozak über die Hintergründe. Doch das Thema sei tabuisiert worden, so dass die Familie fünf Jahre in einem „desolaten Haushalt“ lebte. „Ich wurde nicht materiell, aber seelisch vernachlässigt“, blickt der gebürtige Münchner zurück. Irgendwann sei es nicht mehr gegangen. Sein Vater habe sich an das Jugendamt gewandt, wo er „sehr gute Begleitung“ erfahren habe. Die Lösung bestand schließlich darin, dass die drei Kinder in einem Heim untergebracht wurden, während die Eltern die Krankheit der Mutter anpackten.

Sprungbrett
Für Drozak folgte eine Zeit des Ringens. „Ich brauchte Ruhe, Abstand, aber auch Raum für meine Wut“, sagt er. Nach einem harten ersten Jahr weitete sich der Blick des jungen Mannes jedoch. Zunehmend betrachtete er das Heim als Sprungbrett für die eigene Entwicklung. Drozak begann die Möglichkeiten zu schätzen, die man ihm hier bot. Dem Heim verdanke er auch, dass er heute ein positives Bild seiner Eltern habe. Im Alter von 18 Jahren wechselte Drozak in das Betreute Einzelwohnen, um dann mit 20 Jahren den Absprung zu schaffen.

Heute ist er Diplom-Sozialpädagoge, Theaterpädagoge, freier Künstler und Begründer von „Kunstdünger“, einer Agentur für Kulturdesign. Seine Heimvergangenheit hat er in all den Jahren nie verleugnet – im Gegenteil. „Klar war ich mit 18 froh, draußen zu sein“ sagt er. Zugleich habe es aber schon damals ein Gefühl der Dankbarkeit gegeben. Über die Jahre wurde aus der vagen Regung ein reflektiertes und tief empfundenes Gefühl. Eine Plakataktion der Caritas mit dem Titel „Heim danke“ weckte in Drozak schließlich den Wunsch, sein ganz persönliches und konstruktives „Heim danke“ zu sagen.

Gemeinsam mit Andreas Waldenmeier, Leiter des Jugendhilfezentrums „Maria Schutz“ in Grafenrheinfeld, entstand die Idee, Heim-Erzieher von seinen persönlichen Erfahrungen profitieren zu lassen.

Etwas zurückgeben
Zwei Tage lang war Drozak im Jugendhilfezentrum „Maria Schutz“ zu Gast, um aus seiner Vergangenheit zu berichten und seine emotionale Situation zu beleuchten. Dabei ließ er die Erzieher immer wieder tief in seine Seele blicken und schreckte auch vor heiklen Themen nicht zurück. „Ich möchte etwas von dem zurückgeben, was ich selbst an Gutem erfahren ha¬be“, begründet er sein Engagement. Das Team von Maria Schutz saugte Drozaks Erfahrungen regelrecht in sich auf. Zu wissen, wie viel Nähe und Distanz ein Heimkind tatsächlich braucht, sei für einen Erzieher „ungeheuer erleichternd“, betonte Andreas Waldenmeier: „Berichte aus erster Hand sind für uns von großem Wert, denn das hilft uns, die Beziehung zu den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen positiv und gelingend zu gestalten.“

Er selbst habe wieder gemerkt, „welchen Schatz an Persönlichkeiten wir mit unseren Kindern haben und wie wichtig es ist, genau hinzuhören“. Tief berührt zeigten sich auch die Mitarbeiter und Erzieher: Ilona Krause fand es „unglaublich bereichernd, die Dinge aus der anderen Perspektive zu sehen“. Zu hören, wie positiv hier jemand über seine Vergangenheit spricht, sei für sie „eine sehr wertvolle Erfahrung“. Auch für Erzieher Oliver Bandorf haben sich „viele Theorien mit Leben gefüllt: Das motiviert mich, auch künftig so engagiert zu bleiben.“

Am Ende wünschten sich alle Beteiligten, dass der Austausch zwischen Ehemaligen und Heimerziehern keine einmalige Sache bleibt, sondern Schule macht. Konkrete Überlegungen gibt es in Grafen¬rheinfeld bereits. So bestehen laut Andreas Waldenmeier Kontakte zu einigen Ehemaligen, die man wegen einer Begleitung ansprechen wolle.

Veröffentlicht: 05.03.2013 Anje Legge
Würzburger katholisches Sonntagsblatt